Es war etwa Mitte November, als mich ein Hilferuf aus Heiligenhafen ereilte. Am anderen Ende der Telefonleitung eine Frau, die über ihren Hund verzweifelte. Sie und ihr Mann waren vor einigen Monaten nach Heiligenhafen gezogen, gemeinsam mit dem Hund des Paares. Bei diesem handelte es sich um einen Jack-Russel-Terrier, der eigentlich noch nie so richtig einfach gewesen war. Am vorigen Wohnort in Hessen wurden daher schon früher Hundeschule und Hundetrainer zu Rate gezogen, mit deren Hilfe sich das Verhalten zumindest bis zum Erträglichen besserte. Jedoch artete es seit dem Umzug wieder völlig aus.
Der Hund sei aggressiv und habe schon mehrere Male sowohl Fremde, als auch seine Besitzer gebissen. Der Ehemann könne sich in der Wohnung nicht frei bewegen, da der Hund ihn ständig angreife und dabei durchaus auch schon mal die Zähne einsetzte. Bisher war aber wenigstens Frauchen immer verschont geblieben. Leider hatte sich das nun geändert und nicht einmal Frauchen war mehr vor den Gewaltattacken des Rüden sicher.
Man war zu einem Tierarzt gefahren, um sich Hilfe zu holen. Der Tierarzt entschied aufgrund der geschilderten Vorfälle, dass der Hund eingeschläfert werden müsste. Die einzige Alternative sei, den Hund ein Leben lang mit Diazepam (eine Art Valium) ruhig zu stellen. Verzweifelt stimmten die Hundebesitzer der medikamentösen Ruhigstellung zu. Zu Hause stöberten sie im Internet und landeten schließlich auf meiner Homepage. Frauchen rief an und erzählte mir alles, sie war selbst unsicher, ob es nicht besser sei, den Hund einzuschläfern. Ich bot an, mir den Hund anzuschauen und wir vereinbarten einen Termin.
Wenige Tage später lernte ich Dollar und seine Besitzer kennen. Ich ließ mir noch einmal Dollars Geschichte im Detail erzählen. Das ist immer ein sehr wichtiger Prozess, in dem ich sowohl die Menschen, als auch den Hund und ihre Beziehung zueinander beleuchte. Über die Jahre habe ich mir da einen eigenen Leitfaden entwickelt, den ich nach und nach abklopfe. Das beginnt teilweise schon bei der Trächtigkeit der Mutterhündin (denn selbst eine dauerhafte Stresssituation während der Trächtigkeit kann sich negativ auf die Entwicklung des Welpen auswirken) und endet am Tag des Termins. Und so erfuhr ich folgendes über das bisherige Leben von Dollar:
- kastrierter, 7jähriger Rüde
- stammt von einem Züchter und ist seit Kleinauf bei seinen Besitzern
- In der Pubertät wurde eine Hundeschule besucht, dort kam Dollar in die Welpengruppe, zeigte dort allerdings schon vermeintlich aggressives Verhalten und butterte die anderen Hunde unter
- Auch gegenüber Herrchen und Nicht-Familienangehörigen war sein Verhalten mehr als unstet, es kam zum Beißen in Hosenbeine und Händeschnappen um Berührungen zu entgehen, Besuch bekamen die beiden nicht mehr und wenn sie jemanden besuchen wollten, durfte Dollar nicht mit
- In der Folge suchte man eine Hundetrainierin auf, mit deren Hilfe man das Problem einigermaßen in den Griff bekam – bis zum Umzug vor einigen Monaten (später erfuhr ich, dass damals verbotenerweise ein Stromhalsband eingesetzt wurde, und der Hund einen elektroimpuls bekam, wenn er Herrchen anknurrte – das ist natürlich der völlig falsche Weg und führt, wie in diesem Fall fast bilderbuchhaft – oft zu massiven Fehlverknüpfungen)
- Nach dem Umzug fand ein Zurückfallen in alte Verhaltensmuster statt, der Hund attackierte Herrchen, sobald dieser es auch nur wagte, sich von einem Zimmer ins andere zu bewegen – war Frauchen jedoch nicht daheim, war der Hund wie ausgewechselt, kuschelte und spielte ausgiebig
- wenn Frauchen eingreifen wollte, lenkte sich die Aggression des Hundes auf sie um (das war allerdings tatsächlich neu)
- bei Spaziergängen war der Hund extrem ängstlich, wollte bei lauten Geräuschen sofort kehrt machen, dem wurde meist auch nachgegeben
- seit dem Umzug blieb der Hund nicht mehr allein, er jammerte und jaulte, wenn niemand da war
- aus Verzweiflung holte man sich Rat beim Tierarzt, der empfahl den Hund einzuschläfern. Es erfolgte *KEINE* körperliche Untersuchung des Hundes (eine solche war tatsächlich seit dem Welpenalter noch nie erfolgt, weil sich soweit keiner an den Hund herantraute). Zur Alternative gab es dann die medikamentöse Einstellung. Seither gab es zwar keinen Biss mehr, jedoch schien der Hund nun fast apathisch.
Beim Spaziergang sah ich einen extrem verschüchterten, angespannten Hund, der beim kleinsten ungewohnten Reiz den Rücktritt antrat. Aufgrund der Vorgeschichte verzichtete ich darauf, seine Eskalationsleiter zu testen. Dafür setzt man den Hund unter moderaten Streß und schaut, wie er reagiert. Für Dollar war es allerdings schon wahnsinnig stressig, überhaupt in der Welt draussen zu sein. Außerdem hatte er bereits gelernt, sich Streßsituationen zu entziehen, indem er seine Zähne einsetzte.
Ich war ehrlich zu den Hundebesitzern. Ich wusste nicht, ob ich Dollar helfen könnte, da ich das grundlegende Problem noch nicht klar genug herausfiltern konnte. Es widerstrebte mir, zu sagen, der Hund solle besser eingeschläfert werden, aber ausschließen konnte ich es zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Eine solche Verhaltensproblematik ist nicht ohne und zum Zeitpunkt unseres Termines war Dollar gar nicht aufnahmefähig für irgendwelche Übungen. Und dann war da ja noch ein ganz wichtiger anderer Aspekt zu beachten: Es war nicht auszuschließen, dass sein Verhalten nicht doch durch eine krankhafte Veränderung irgendwelcher Organe oder einer Schmerzsymptomatik stammten.
Es gibt so einiges im Hundekörper, was das Verhalten beeinflussen kann, eine Schilddrüsenproblematik zum Beispiel oder ein Hirntumor oder ganz simpel auch einfach Schmerzen. Und so schickte ich Dollar und seine Besitzer zu allererst zum Tierarzt meines Vertrauens. Und wenn dieser Hund zur Untersuchung narkotisiert werden müsste, ein Training an einer solchen Geschichte bringt leider gar nix, wenn die Ursachen in einer Krankheit liegen. Also hieß es für Dollar ab zum Tierarzt. (Er musste übrigens weder narkotisiert noch sediert werden, ein tolles, routiniertes Team schaffte es, ihn soweit zu bändigen, dass man ihn untersuchen konnte – ein guter Tierarzt ist GOLD wert!)
Die gute Nachricht zuerst: Dollar war gesund, es gab organischerseits keine Hinweise auf ein Krankheitsgeschehen, welches für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden könnte.
Die schlechte Nachricht: Dollar war gesund, seine Probleme waren also anderer Natur und ich musste weitersuchen. Trotzdem war dieser Tierarztbesuch, wie sich später noch herausstellen sollte, extrem wichtig für den weiteren Verlauf. Man teilte dort nämlich meine Auffassung, dass die bisherige Medikation, den Hund lediglich ruhig stellte, man so aber nichts am Verhalten ändern würde. Stattdessen empfahl man ein anderes Medikament, welches eingesetzt werden könnte, um Dollar ein wenig aufgeschlossener zu machen und ihm ein wenig die Ängste zu nehmen, ohne ihn jedoch zu sedieren. Das Medikament selbst war mir bisher nicht bekannt und es zog noch ein Telefonat von mir mit der Tierärztin nach sich, damit ich wusste, wie dieses Medikament sich auf den Hund auswirken würde.
Einziges Problem an der Geschichte: Sollte es sich bei Dollars Verhalten um kein ängstlich-bedingtes, sondern um ein dominanzverhalten-bedingtes Problem handeln, bekämen wir ein echtes Problem mit dem Medikament, weil wir damit sein Selbstvertrauen noch mehr steigern würden. Hinzu kam, dass sollte das Mittel anschlagen, gleichzeitig viel Training investiert werden müsste. Und im Gespräch mit mir war sich selbst die Tierärztin unsicher, inwieweit man diesem Hund Lebensqualität vermitteln könne, wenn das Verhalten nicht in den Griff zu kriegen wäre.
Für Dollars Fall hieß das Alles oder Nichts. Wir hatten die Wahl: Wir konnten ihn weiterhin in halb-sediertem Zustand lassen und darauf hoffen, dass sein Körper sich nicht zu schnell an das Diazepam gewöhnte. Oder wir wagten einen Versuch mit dem neuen Medikament. Das Problem an der ganzen Sache war eigentlich, dass ich mir weiterhin noch recht unschlüssig war, ob mir die mitgebrachten Videoaufnahmen von daheim nicht doch einen dominant-aggressiven Hund zeigten, was dem Verhalten draussen vollkommen widersprach, denn zuweilen zeigten die Videoaufnahmen eine dominante Körpersprache. Andererseits konnte man auch nicht davon sprechen, dass es mit dem Diazepam zu einer wirklichen Besserung kam. Also entschieden wir uns, es zu versuchen. Das Diazepam wurde also sukzessive heruntergeschraubt, das neue Medikament angefangen und wir sahen uns jeden zweiten Tag.
Die ersten Termine waren leider gar nicht so toll: Zwar gab es keine erneuten Beissvorfälle, aber sonst war der Hund ruhe- und rastlos, ständig am Bellen und Knurren und entwickelte sogar neue “Macken” wie ein ungerichtetes In-die-Luft-schnappen (wahrscheinlich eine Nebenwirkung des Diazepam-Entzugs). Wir beschlossen zu warten, versuchten das Medikament auf eine 2malige Gabe der aufgeteilten Dosis aufzuteilen (da das negative Verhalten im Tagesverlauf schleichend schlechter wurde) und hofften und beteten.
Gleichzeitig begannen wir, an einem Problem zu arbeiten, welches von den Besitzern als beiläufig angesehen wurde, aber mir und uns einen guten Überblick über die Entwicklung gab: Das Auto verschließen. Bisher war es immer wie folgt abgelaufen: Der Hund sprang in den geöffneten Kofferraum in sein Körbchen und die Besitzer mussten schnell genug sein, die Klappe hinter ihm zu schließen, da er sonst angriff. Augenscheinlich hatte er also auch vor der sich senkenden Klappe Angst (was gar nicht mal ungewöhnlich ist, viele Hunde nehmen das als Bedrohung wahr). Nun bat ich die Besitzer die Klappe nicht gleich zu schließen, sondern dem Hund ein positives Gefühl zu vermitteln. Es hieß also erst einmal “Hand an die Klappe – Leckerchen werfen – Hand weg von der Klappe – Hand an die Klappe – Leckerchen werfen, wenn Hund ruhig – Hand an der Klappe lassen-usw.” Wie ich das halt sonst mit jedem anderen Hund in diesem Fall auch trainieren würde. Und bereits 2 Termine später, was die Kofferraumklappe kein Problem mehr. Gut es dauerte natürlich noch eine gefühlte halbe Stunde vom Einladen des Hundes bis zu geschlossenen Klappe, aber er attackierte nicht mehr.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich an den anderen Problemen leider jedoch noch nicht so viel geändert, das Medikament nahm Dollar jetzt seit etwa einer Woche, die Wirkung sollte nach Einnahmebeginn recht rasch zu merken sein, hatte die Tierärztin gesagt. Ich ermutigte die Besitzer bei jedem Termin, die Hoffnung nicht aufzugeben und jeden bissfreien Tag als Erfolg anzusehen, doch auch ich hatte noch so meine Zweifel, ob Dollar die Kurve bekommen würde. Und die Besitzer fragten sich unweigerlich, ob die Einschläferung nicht doch die bessere Alternative wäre.
Dollar BEKAM SIE! Als die Besitzer vor 2 Tagen wieder zum Termin bei mir waren, war der Durchbruch geschafft. Dollar fing an, daheim zu entspannen. Er schlief tagsüber und fühlte sich nicht gleich in Lebensgefahr, wenn man ihn auf seinen Platz schickte, oder sich in der Wohnung bewegte. Er hatte keine Angst mehr, sich seinem Napf zu nähern wenn sich gleichzeitig jemand im Raum aufhielt und konnte in Ruhe fressen. Er lief DRAUSSEN entspannt auf dem Spaziergang und wollte nicht mehr ständig umdrehen, weil er von irgendwoher irgendetwas gehört hatte. Er stellte die Attacken auf Frauchen wieder komplett ein und reduzierte sie bei Herrchen auf ein “Manchmal-knurr-ich-noch-bleibe-aber-ruhig”, die ‘In-die-Luft-Schnapperei’ wurde nach und nach weniger und er wurde wieder ansprechbarer. Er begann sogar während des Spaziergangs wieder zu schnuppern und schien insgesamt entspannter.
Ihr glaubt gar nicht, wie erleichtert ich war. Damit war die Einschläferung vom Tisch. Es liegt zwar noch viel Arbeit vor den Dreien, denn jetzt, wo Dollar nicht mehr gelähmt von Angst ist, sondern tatsächlich aufnahmefähig für ein Training, gilt es, ihn an die bisher beängstigenden Reize heranzuführen, ohne ihn zu überreizen und sein Vertrauen in seine Besitzer nachhaltig zu stärken.
Zwar sind bisher auch langfristig keine negativen Auswirkung der Gabe des Medikamentes bekannt, jedoch ist das Ziel natürlich, das Medikament langfristig vielleicht wieder absetzen zu können. Bis zum ersten Reduktionsversuch wird es aber noch Wochen oder Monate dauern, auch das wird dann in Absprache mit der Tierärztin erfolgen. Aber im Moment ist es so für alle Beteiligten mehr als in Ordnung. Und so freuten wir uns zu Dritt gemeinsam mit Dollar über das nun doch sehr gute Ergebnis nach wenigen Wochen.
Dieser Fall zeigt sehr deutlich, wie wichtig es ist, auch im Hundetraining immer die gesundheitlichen Aspekte mit unter die Lupe zu nehmen. Ein Tierarzt, der einen Hund aufgrund von vermeintlich aggressivem Verhalten einschläfern will, ohne körperliche Probleme auszuschließen, ist für mich unbegreiflich. Wie knapp es für Dollar tatsächlich war, erfuhr ich tatsächlich erst in einer der späteren Stunden, denn der Tierarzt war wohl damals schon dabei, die Spritze aufzuziehen und konnte nur mit Mühe überredet werden, eine Alternative anzubieten. Diazepam hat jedoch den Nachteil, dass es schnell abhängig macht, die Dosis muss also stetig gesteigert werden, was langfristig zu anderen gesundheitlichen Schäden führen kann. Und zum anderen stellt es den Hund zwar ruhig, ändert aber nichts an seinen Ängsten.
Und so ist Dollars Wandlung nicht nur für seine Besitzer, sondern auch für mich ein echtes kleines Weihnachtswunder, denn jetzt können wir daran arbeiten Dollar wieder ein lebenswertes Leben zu bieten, ohne übermäßige Angst – und das obwohl er vor einigen Wochen bereits die finale Spritze vor der Nase hatte.
Hut ab, Susann!
Sehr geehrte Damen und Herren dieses hier aufgeschriebene Problem haben wir mit unserer Hündin auch die bekommt auch diazepan…wäre es möglich zu erfahren welches andere Medikament verabreicht wurde ? MfG silke Schauer
Sehr geehrte Frau Schauer,
Bitte haben Sie Verständnis, dass ich als Nicht-Tierarzt hier auf der Seite keine so spezifischen Angaben machen kann.
Sie können mich aber gern einfach unter der Nummer 04371-889346 anrufen. Dort kann ich Ihnen gern weitere Informationen geben.
Viele herzliche Grüße
Susann Bernert
Tierservice Fehmarn